„Wer Zäune um Menschen baut, bekommt Schafe.“ – Interview mit Dr. Peter Kreuz
Die digitale Transformation macht vielen Unternehmen Angst: Alte Lösungen sind nicht mehr gefragt, neue noch nicht erprobt. Was raten Sie Unternehmen: Wie sieht der erste mutige Schritt aus, um auch in Zukunft am Markt bestehen zu können?
Die Zukunft ist kein Schicksal, sondern lässt sich gestalten. Dazu braucht es Menschen, die den Mut und den Willen haben, die Ärmel hochzukrempeln und immer wieder aufs Neue herauszufinden, was richtig ist. Nehmen Sie die digitale Transformation. Ja, diese Entwicklung hat gewaltige Auswirkungen. Und ja, es verändert unsere Arbeitswelt grundlegend. Denn es bedeutet, dass eine Maschine problemlos die Arbeit von zwanzig gewöhnlichen Menschen machen kann. Aber keine Maschine ist in der Lage, die Arbeit von einem außergewöhnlichen Menschen zu machen. Das sollten wir uns bei den gegenwärtigen angstgetriebenen Debatten immer wieder bewusst machen.
Okay, und was bedeutet das in der Konsequenz?
Menschliche Arbeit kann dann nicht digitalisiert werden, wenn sie ein Bedürfnis jenseits der Funktionalität bedient. Mein Autorenkollege Dan Pink beschreibt das sehr treffend als ‚High-Concept’ plus ‚High-Touch’. High-Concept ist die Fähigkeit, Chancen zu erkennen und scheinbar unzusammenhängende Versatzstücke zu etwas Neuem zu kombinieren. High-Touch beschreibt die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, die Feinheiten menschlicher Interaktionen zu verstehen und Freude in sich selbst zu finden und in anderen zu wecken. Diese Fähigkeiten zu kultivieren und bei der Arbeit einzusetzen, macht den entscheidenden Unterschied. Das Gute daran ist, dass wir alle diese Fähigkeiten bereits in uns tragen. Wir müssen sie nur endlich zur Entfaltung bringen und es braucht ein Unternehmensumfeld, das genau das fordert und fördert.
Warum tun sich so viele Firmen so schwer, etwas Neues anzustoßen?
Unternehmen sind mit ihren Strukturen, Zuständigkeiten und Regeln auf die Bewältigung von Routineaufgaben zugeschnitten. Aber Innovationsaufgaben sind alles andere als Routineaufgaben. Hinzu kommt, dass es Arbeit, Energie, Mut und Ausdauer verlangt, einen neuen Weg einzuschlagen. Doch viele wollen keine Veränderung, sondern nur ein bisschen Frieden. Neues anzustoßen, bedeutet auch, sich gegen Widerstand durchzusetzen zu müssen und Konflikte mit den Gralshütern des Status quo in Kauf zu nehmen. Der Leitsatz in so manchem Unternehmen lautet deshalb bedauerlicherweise: Wer nichts tut, löst auch keinen Konflikt aus.
Welche Führungspersönlichkeiten braucht es dazu?
Eine gute Führungskraft zeichnet sich dadurch aus, dass sie es schafft, dass Menschen ihr vertrauen. Und zweitens und noch viel wichtiger, dass sie es schafft, dass die Menschen sich selbst vertrauen.
Sie sagen, wer Zäune um Menschen baut, bekommt Schafe. In wie fern ist diese Führungskultur heute noch in Unternehmen anzutreffen?
Es gibt immer noch viele Zäunebauer in den Chefetagen. Das ist bloß ein zweckloser Versuch, in Zeiten extremer Komplexität alles und jeden mit Kontrolle in den Griff bekommen zu wollen. Hinzu kommt, dass Unternehmen, die mehrheitlich von Schafsherden bevölkert sind, sich auf geradezu sträfliche Weise ihrer Möglichkeiten berauben. Denn statt Initiative, Kreativität und Engagement herrschen Konformität, Gleichgültigkeit und Dienst nach Vorschrift.
Wie wollen wir heute geführt werden, damit wir keine Schafe werden?
Selbständig denkende und handelnde Mitarbeiter brauchen Selbstbestimmung und Freiraum. Deshalb ist es so wichtig, die allseits beliebte Regel- und Kontrollwut radikal einzudämmen, denn ein enges Regelwerk erzieht Menschen dazu, Regelbefolger zu werden. Das wäre schon ein guter Ansatzpunkt für die Personalarbeit: Welche Regel können wir weglassen? Auf welches Formular können wir verzichten? Aufräumen, entrümpeln, mental durchlüften! Alles aus dem Weg räumen, worüber Mitarbeiter sich ärgern und was sie davon abhält, ihre Arbeit fokussiert und mit Engagement auszuüben.
Wie lässt sich konkret dagegen angehen?
Ein Kunde von uns aus Dublin führt einen klugen Ideenwettbewerb durch unter dem Titel „Kill a Stupid Rule“. Mitarbeiter werden gebeten, überflüssige Regeln, unnütze Formulare, nervende Anwesenheitsdokumentationen aufzuzeigen und einen Weg vorzuschlagen, wie man ohne diese auskommen könnte. Das löst eine bürokratische Entschlackungskur aus, die Wunder wirkt. Das finde ich vorbildlich.
Und welche Mitarbeiter eigenen sich am besten, um die Reise ins Ungewisse anzutreten?
Organisationen brauchen Menschen, die provokativ und gleichzeitig kompetent sind. Zwei Punkte sind wichtig: Es genügt nicht, nur kompetent zu sein. Das ermöglicht durchschnittliche, solide, fachlich untadelige Arbeit, die absolut okay ist, aber kein Herz höher schlagen lässt. Es reicht auch nicht aus, nur provokativ zu sein. Hier vergisst das Hinterfragen seinen Zweck, wird zum Selbstzweck und dient nicht mehr der Sache selbst. Es geht also darum, beides gleichzeitig zu sein: Kompetent zu sein, also gründlich, geschäftsorientiert, verantwortungsbewusst. Und gleichzeitig provokativ, also herausfordernd, hinterfragend und kreativ.
Worauf müssen wir uns in der zukünftigen Arbeitswelt einstellen?
In einer immer komplexeren und sich immer schneller verändernden Welt gibt es keine Gewissheiten mehr. Wir kommen also nicht umhin, traditionelle Überzeugungen zu hinterfragen, konventionelle Erfolgsmuster zu attackieren, Denkgrenzen zu sprengen, neue Einsichten aufzuspüren, Experimente zu wagen, Misserfolge zu analysieren und wieder von vorn beginnen. Und das immer und immer wieder.
Angenommen, ich mache das, experimentiere und scheitere trotzdem. Was dann?
Diese Herangehensweise ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil ausnahmslos alle, die offen experimentieren, dabei auch Rückschläge und Niederlagen erleiden. Segen, weil nur diejenigen neue Ufer erreichen, die aufbrechen und mutig neue Wege ausprobieren. Wir müssen deutlich mehr ausprobieren, zum Beispiel indem Kunden frühzeitig in die Entwicklung von neuen Ideen einbezogen werden und die Prototypen unter realistischen Bedingungen getestet werden. Amazon-Chef Jeff Bezos sagt, dass der Erfolg seines Unternehmens eine direkte Folge der Anzahl der Experimente ist, die man dort jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche und jeden Tag macht. Etwas freier übersetzt heißt das, dass das Experimentieren nicht eine Strategie unter vielen anderen ist, sondern dass es die Strategie zur Gestaltung der Zukunft ist.
Über den Autor:
Dr. Peter Kreuz gehört zu einer neuen Generation von Managementvordenkern und ist Autor mehrerer SPIEGEL-, Manager Magazin- und Handelsblatt Bestseller. Mit seiner Community „Rebels at Work“ bringt er Menschen zusammen, die über Grenzen hinweg denken, den Status Quo hinterfragen und andere von ihren Ideen überzeugen. Peter Kreuz hält die Eröffnungskeynote beim MEDIA TASTING am 24. Juni 2019. www.foerster-kreuz.com